Jan Bürger

Kaum ein Flusslauf hat weltweit eine vergleichbare literarische Bedeutung gewonnen wie die Landschaft zwischen Schwenninger Moos und Mannheim. Tübingen, Stuttgart, Marbach, Heidelberg - die ältesten Universitäten der Welt sind hier zu finden ebenso wie Denker und Dichter, die unvergänglich schillern. Das gesamte Neckartal trägt die Spuren jahrtausendealter Siedlungsgeschichte, die in den vergangenen Jahrhunderten besonders dramatische Veränderungen mit sich brachte: seit der Neckar bis Plochingen schiffbar kanalisiert wurde. Um 1900 lebten im Großraum Stuttgart 770.000 Menschen, heute sind es 2,7 Mio. Das württembergische Stammland und die kurpfälzische Metropole Mannheim sind die Bindeglieder einer ökonomischen Revolution, die mit der Erfindung des Automobils auf dem Neckar startete (zu sehen im Mercedes Benz Museum Stuttgart, der erste Motor wurde von Gottlieb Daimler und Wilhelm Maybach in einem Boot im Sommer 1886 auf dem Neckar getestet, Bild Seite 66) und heute eine Region mit weltweiter Bedeutung ist.

"Zu Recht gilt das Neckartal als eine Landschaft der Erfinder, Denker und Dichter. Je weiter sich der Fluss von seinem Ursprung zwischen Schwarzwald und der Schwäbischen Alb entfernt, desto stärker wird er mit Geschichte aufgeladen, desto mehr Ereignisse und Biografien stehen mit ihm in Verbindung....Es war zwar der Mercedes-Stern, der den Neckar weltbekannt gemacht hat, die Dichtung aber erhob ihm zum kulturellen Monument." Jan Bürger beobachtet den heutigen Neckar vom Frühling 2011 bis März 2012, mit mehr als lesenswerten, intimen, detailreichen, spannenden Verbindungen zum Gestern, ein literarisch realistisches Panoptikum einer Landschaft und berühmten Anwohnern. 7 Stationen führen von Tübingen nach Mannheim (über Nürtingen, Esslingen, Stuttgart und Cannstatt, Ludwigsburg und Marbach, Heilbronn, Weinberg, Heidelberg), um am Ende zum Ursprung des Flusses ins Schwenniger Moos, Nordstetten bei Horb (Auerbach) und die Wurmlinger Kapelle zu kommen.

Von Mannheim nach Plochingen sind es 203 km, 27 Schleusen und 161 Höhenmeter stehen an, die Höhe des Ulmer Münsters. Diesem Buch gelingt eine seltene Kunst: die eindringlich spannende Verbindung aus Kennzeichnendem mit den weitschweifenden Gedanken des hier wirkenden Geistes, deren Bewohner heute leider viel zu wenig wissen um eine Landschaft, deren Fluss durch die Industrialisierung von einem reißenden Gewässer in eine Art Treppe verwandelt wurde. Jan Burger wandelt auf diesen Treppenstufen und skizziert den Neckar im langsamen Fluss einer Annäherung im Heute mit den Verflechtungen zum Gestern. In einer Sprache, die mit auf die Reise nimmt, in Zeiten, Orte und Landschaften. Sehr gekonnt und klar zu lesen, er mäandert weit hin zurück und her zur Gegenwart, immer mit Punkten, die einem Lust machen, sich ebenso auf die Reise auf und am 367 km langen Fluss zu begeben.

Besonders beeindruckt haben mich die Schilderungen aus Tübingen zu Beginn des Buches. Hölderin und Waiblinger werden als sich gegenseitig ähnelnde Charaktere beschrieben, welche vergleichbare Leidensstationen durchleben mussten, die sich im "Leiden am Tübinger Stift" oder auch in der Ablehnung ihrer Werke durch Goethe kennzeichnen lassen. Waiblinger wurde vor seiner Flucht ins Ausland von einem Brandstifter verleumdet, der die Liebe Waiblingers zu Julie Michaelis in den Schmutz zog bzw. die von Waiblinger über alles Geliebte in der Öffentlichkeit lächerlich machte. Sie lebte danach unverheiratet bis 1879, während Waiblinger jung, einsam und arm in Rom starb, nicht fähig, die in Tübingen erlittene Schmach zu überwinden. Seine Aufzeichnungen über Hölderlin (er kümmerte sich über 4 Jahre um den kranken Hölderlin) dienten später dazu, den ausgebrannten Hölderlinturm als eine Gedenkstätte authentisch nachzuempfinden, heute einer der wichtigsten Gedächtnisorte der Literaturgeschichte überhaupt.… (más)